Horst Gauss

Es war einmal ...

„Karl der Große“ aus Sachsenhausen

Was wäre der Boxsport ohne die vielen Anekdoten, die sich um die Ringhelden ranken. Da passierten schon die seltsamsten Dinge, an die man sich heute noch gern erinnert.

Da gab es im Jahr 1966 in Sachsenhausen einen Mann namens Karl, der sich irgendwann einmal in die CSC-Sportschule in der Martin-May-Straße verlaufen hatte und vom dortigen Boxgeschehen so fasziniert war, dass er fortan zum festen Repertoire des CSC zählte. Freilich nicht als Boxer, dafür war Karl mit seinen 40 Jahren nicht mehr zu gebrauchen, doch machte er sich überall dort nützlich, wo ein Handwerker oder Handlanger gebraucht wurde. Karl war immer und überall präsent. Er sah furchterregend aus, hatte eine breit geschlagene Nase, ein Relikt von einer vergangenen Straßenschlacht und auch sonst war Karl mit seinen stolzen 130 Kilo ein stabiler Bursche, dem man durchaus abnehmen konnte. dass er einmal Boxer gewesen sein könnte, sieht man von seinem dicken Bauch ab.

Nur hatte Karl niemals geboxt, obwohl er doch so gerne Boxer gewesen wäre, und so erzählte er auch allen, die ihn nach seiner sportlichen Vergangenheit fragten, dass er einst ein Großer im Ring gewesen sei.

Da kam ihm sein jetziges CSC-Umfeld gerade wie gerufen, und so sah man „Karl dem Großen“, diesen Spitznamen hatte er schnell weg, des öfteren mit einem CSC-Trainingsanzug durch Sachsenhausen laufen.

Noch öfter sah man ihn mit selbigem Trainingsanzug in den anrüchigen Kneipen lustwandeln. Überall prahlte er mit seiner Boxvergangenheit und dass er jetzt wieder beim CSC als Schwergewichtler boxe.

Die Zuhörer mussten es ihm glauben. Schließlich trug Karl ja den CSC-Trainingsanzug, auf dessen Rückseite er sich von einem Schneider noch selbst das Wort „Boxen“ mit großen weißen Buchstaben hatte sticken lassen.

Karl der Große durchlebte genüsslich seine von ihm aufgebaute Scheinwelt.
Ja, ab und zu sah man ihn auch schattenboxend durch Sachsenhausen laufen, und er genoss die bewundernden bzw. rätselnden Blicke der Passanten.

Trotz dieser kleine "Macke" war Karl ein lieber Kerl. Stets hatte er auch eine Sporttasche bei sich, von der ein paar 12-Unzen-Boxhandschuhe herunter baumelten, so dass auch jeder sehen konnte, dass er Boxer war. So trottete er abends stolz durch Sachsenhausen Richtung CSC-Sportschule, allerdings nicht um zu trainieren, das erzählte er anschließend in den Kneipen, sondern lediglich um dem Boxtraining zuzuschauen und um dabei 4 – 5 Flaschen Bier vorn an der Bar zu trinken.

Oft wankte er dann die Eisentreppe der Martin-May-Straße hinunter und schleppte sich zur nächsten Kneipe. Nun wäre das alles nicht so schlimm gewesen und sicherlich wäre " Karl der Große" noch ein paar Jährchen länger als Pseudo-Boxer durch Sachsenhausen gezogen, doch machte Karl der Große diesem Scheinleben selbst ein jähes Ende. Eines Tages kam Karl mit Trainingstasche und CSC-Anzug zähneknirschend in sein Stammlokal, in Becks-Bierstube in der Brückenstraße. Er setzte sich an den Tresen, fing an zu heulen und schlug immer wieder mit der Faust auf den Tresen:

„So eine Gemeinheit, alles Scheiße, ich mach da nicht mehr mit!“

Karl erregte das Interesse der Gäste und auch Wirtin Traudel bekam es mit der Angst zu tun. Die Tränen kullerten die Backen herunter und nur mühsam konnte bzw. wollte er dies verbergen. Ab und zu schaute er linkisch zur Seite, dass er auch ja beobachtet würde. Schließlich bekam Wirtin Traudel Erbarmen und wollte den Grund so vielen Jammers wissen. Karl polterte los:

„Ich mach das nicht mehr mit beim CSC. Das ganze Jahr halt ich den Kopp hin und box jeden den man wir vorsetzt. Jetzt am Wochenende boxen wir gegen Marburg. Der Trainer hat mir fest versprochen, dass ich boxe und, dass ich endlich mal einen leichten Gegner krieg. Jetzt bin ich nicht aufgestellt. Das lass ich mir nicht gefallen!“

Traudel war sichtlich erleichtert, dass nichts Ernsteres vorlag und schenkte wieder Bier aus, doch Karl heulte immer noch weiter. Selbst die Gäste bekamen nun Mitleid und schenkten ihm ungeteilte Aufmerksamkeit.

Und da legte Karl richtig los. Wen hatte er doch schon alles geschlagen und wie gut er das konnte. Ja, er ließ seiner Phantasie vollen Lauf, bei den von ihm geschlagenen Gegnern waren so namhafte Boxer wie Gerhard Zech, Ossi Büttner und Nick Sührig dabei, doch merkte Karl gerade noch im letzten Moment, dass er schon bei Cassius Clay angelangt war.

Halt, so weit durfte er es nicht kommen lassen. Das würden die Leute ihm nicht glauben. Schnell griff er wieder auf kleinere Gegner zurück. Doch auch die waren fast alle in der Deutschen Spitzenklasse beheimatet. Ja und dann solch eine Gemeinheit, ihn, den „Großen Karl“ nicht bei solch einem kleinen Clubkampf aufzustellen.

Die Gäste bekamen große Ohren und lauschten andächtig mit dem Kopf nickend den Worten des großen Boxers, ein Balsam für Karls wunde Seele. Schließlich wurde es Traudel zu bunt und sie rief in der CSC-Sportschule an um zu vermitteln. Vielleicht konnte ja Karl doch noch mit ihrer Hilfe am Wochenende aufgestellt werden. In der CSC-Sportschule klingelte das Telefon und ein verdutzter CSC-Trainer musste eine Schimpfkanonade über sich ergehen lassen, kein Wort verstehend.
Was sollte er mit dem Karl machen?

Der sollte boxen?

Der Trainer fragte die Wirtin, ob sie noch alle Tassen im Schrank habe, der Karl habe doch noch nie in seinem Leben im Ring gestanden. Im Lokal war es plötzlich ganz ruhig geworden , als die Wirtin Karl mit ungläubigen Augen ansah. Karl der Große stand kurz vor seiner Denunziation.

Leicht verlegen schaute er sich um und wurde knallrot im Gesicht.

„Lass nur Traudel, ich mach das schon“, bedeutete er der hilfreichen Wirtin und nahm ihr das Telefon aus der Hand. Er schimpfte noch ein wenig ins Telefon, obwohl sein Gegenüber schon längst eingehängt hatte. Dann schlich er kleinlaut aus dem Lokal, kichernde Gäste zurück lassend.

Beim CSC entschloss man sich dem Treiben "Karl des Großen" ein Ende zu machen. Der Junge musste verwarnt werden. Er durfte nicht mehr besoffen in den Kneipen erzählen, dass er beim CSC boxen würde Also besuchte man ihn in seiner Wohnung um in einem klärenden Gespräch alle Klarheiten zu beseitigen.

Karls Frau öffnete die Wohnungstür, ihr Mann sei leider nicht zuhause. Die Besucher dürften jedoch gern eintreten.

Die Perversion einer perfekten Scheinwelt bot sich den verdutzten CSC-Verantwortlichen. Da hingen doch tatsächlich im Flur massenweise Boxbilder, Bilder, auf denen Karl der Große in Boxerstellung zu sehen war, Bilder, Karl zusammen mit Mildenberger, mit Lothar Stengel und Rüdiger Schmidtke. Bilder, auf denen man ihn mit erhobenem Arm sah, das Siegeszeichen der Boxer. Die Sprache verschlug es vollends den Besuchern beim Betreten des Wohnzimmers. Da standen doch tatsächlich im Wohnzimmerschrank mehrere Sieger-Pokale und an der Wand hing ein großer goldener Lorbeerkranz mit einer schwarz-rot-goldenen Schleife mit der unglaublichen Inschrift:

„Karl für seine großen Erfolge im Boxring“.

Das Staunen nahm kein Ende, ja die Betrachter waren sogar beeindruckt. Es war schon phänomenal, was sich der liebe Karl da so alles zurecht gebastelt hatte. Das durfte doch alles nicht wahr sein.

Karl hatte doch noch nie geboxt, woher diese Trophäen?

Stolz zeigte seine Frau die vielen Pokale und Bilder:

„Ja, ja, mei Karlche!“

Betroffenheit machte sich bei den Besuchern breit. Schnell verließ man wieder die Phantasiewelt und machte sich so seine Gedanken. Als Karl am Abend angeheitert nach Hause kam, erzählte ihm sein treues, gutgläubiges Eheweib von dem hohen CSC-Besuch und dass alle sehr beeindruckt gewesen wären und sich über seine Pokale gewundert hätten.

Man sah Karl noch viele Jahre in Sachsenhausen, doch nie mehr beim CSC und nie mehr mit einem CSC-Anzug, geschweige denn mit umgehängten Boxhandschuhen.

Verlegen schaute er bei Seite, wenn er einen alten CSC-Bekannten traf. Auch die Trophäen sollen nun nicht mehr in seiner Wohnung sein ...

Der große, böse Wolf

DER GROßE BÖSE WOLF

Was wäre der Boxsport ohne die vielen Anekdoten, die sich um die Ringhelden ranken.

Da passierten schon die seltsamsten Dinge, die dann noch viele Jahre die Runde machten.

Auch beim CSC gibt es Storys, die man sich immer wieder am Stammtisch erzählt und die in der Erinnerung fortleben. Die DABV – Gewaltigen mögen im Nachhinein den einen oder anderen Verstoß verzeihen. Verjährung gibt es sicherlich auch bei den Boxern. Die meisten erinnerungswürdigen Ereignisse fanden komischerweise in Bayern statt.

Und so geschah es auch am 13.06.1971, dass der CSC zu einem Clubkamp in Selb verweilte.

Schon tags zuvor hatte der CSC fürchterlich auf die Ohren bekommen und beim Zweitstart am Sonntagmorgen gab es echte Aufstellungsschwierigkeiten. Die Bayern hatten die Besetzung ihres Lokalmatadores Günter Seidel zur Bedingung gemacht, Seidel war seinerzeit der Deutsche Kronprinz auf Hussings Schwergewichtstitel, ein satter und properer Bauernbursche, so richtig nach dem Geschmack der Bayern, 100 Kilo schwer und schon mehrfacher Bayernmeister. Eigentlich sollte Dieter Schütze gegen ihn boxen, doch Dieter hatte sich beim Erststart verletzt und konnte unmöglich antreten. Nun war guter Rat teuer. CSC-Geschäftsführer Herbert Wolf sah schon die Hälfte der vereinbarten Kampfpauschale schwinden, denn dieser Abzug war vereinbart, falls Seidel nicht besetzt würde. Doch die Bayern kannten Herbert Wolf schlecht. Bei der Zusammenstellung der Kampfpaarungen stand plötzlich Herbert Wolf, ein guter Mittdreißiger und schon seit Jahren nicht mehr im Ring, auf dem Meldebogen. Erstauen bei den Bayern, vielleicht hatten die Frankfurter ja noch einen Namensvetter mitgebracht. Überraschung und Bewunderung aber auch bei den CSC-Boxern, dass sich Herbert opfern wollte. Zu de fehlenden Ringpraxis kam noch, dass Herbert rund 20 Kilo leichter war. Doch das machte Herbert nichts aus. Ein mitgereister Frankfurter Boxfan,

Jürgen Bauer, hatte eine Schmalfilmkamera dabei und wollte alles mitfilmen. Unter dem Jubel der 1.500 Zuschauer betrat Günter Seidel, der jugendliche Held, den Ring. Ein Raunen ging durch die Zuschauer als er seine 100 Kilo durch die Seile schwang und der Ring, der auf unebenem Boden aufgebaut war, ächzte und quietschte. Dann erschien Herbert Wolf, ein im Vergleich zu Seidel schmächtig wirkendes Männlein im Ring und das Publikum fing an zu lachen. Was wollte den der alte Mann gegen ihren Lokalmatador ausrichten. Der Gong ertönte und die Zuschauer erwarteten ein schnelles Ende. Doch welch seltsames Geschehen da oben im Boxring. Da stand ein furchtbar grimmig schauender Herbert Wolf einem zögernden Seidel gegenüber. Wolfs Minenspiel konnte schon Furcht einflößen, das wussten auch die CSC-Boxer, dann kamen da noch seine angedeuteten Finten und geschickte Oberkörper –bewegungen. Wolf war schließlich in früheren Jahren mehrmals württembergischer Meister im Weltergewicht gewesen, aber das war ja schon so lange her. Kurzum, in der ersten Minute geschah eigentlich nicht, außer, dass Herbert Wolf fürchterlich grimmig dreinschaute und Seidel mit einigen linken Geraden verblüffte. Plötzlich war es mucksmäuschenstill im Zelt geworden, man hätte eine Stecknadel fallen hören, der Kameramann Jürgen Bauer hatte noch nicht eine Filmaufnahme gemacht, so überrascht war er von Herberts forschem Auftreten. Jetzt kam Herbert größter Auftritt. Aus sicherer Distanz Seidel gegenüberstehend, stampfte er kräftig mit den linken Fuß auf den wackeligen Ringbelag. Wie ein Donnerwetter schallte dieser Auftritt auf die quietschenden Bretter durch das still gewordene Zelt. Wild und grimmig dreinschauend, mit pendelndem Oberkörper, einen Schwinger andeutend, stampfte Herbert durch den Ring, der verdutzte Seidel im Rückwärtsgang. Herbert stampfte noch mal kräftig, seine Blicke waren tödlich, Seidel total verwirrt. Die moralische Wirkung war eine

Ungeheuerliche. Nicht nur Seidel war verdutzt. Auch sein Sekundant bekam vor Stauen den Mund nicht auf und das Publikum verharrte noch immer in Schweigen und wusste nicht mit diesem Kampf anzufangen. Einem Kampf, der überhaupt keiner war. Doch schon wieder hatte Herbert mit dem linken Fuß gestampft und einem wilden rechten Schwinger in die Luft geschlagen. Seidel verstand die Welt nicht mehr. Es war überhaupt nichts geschehen und schon war die erste Runde vorbei. Jetzt begann das Publikum zu pfeifen, hatte es doch nun den gro0en Bluff begriffen und wollte nun endlich Boxen sehen und nicht nur einen Furcht einflößenden, wild um sich stampfenden, alten Mann, der den Lokalmatador bluffte. Was der arme Günter Seidel in seiner Ecke zu hören bekam, als der Pausengong ertönte, wird er sicherlich nie vergessen. Das Geschrei des Sekundanten verstand man noch am Zelteingang. Doch nicht nur er, auch der Hilfssekundant und Freunde kamen zu Seidel in die Ecke und erklärten ihm, dass das doch alles Bluff sei, er sollte doch mal richtig hinhauen, was er für ein Waschlappen sei usw. Die Kopfwäsche war fürchterlich. In der anderen Ecke stand unser armer Herbert Wolf und hörte jedes Wort mit, das musste ja fürchterlich werden in der zweiten Runde. Vier oder fünf Personen hatten auf Seidel in der Rundenpause eingeredet, hatten ihn förmlich aufgeputscht. Und da saß immer noch der verdutzte Kameramann Jürgen Bauer. Bis jetzt hatte er noch nicht einmal gefilmt, so war er von Herbert Wolf überrascht gewesen. „Jetzt mach endlich mal Aufnahmen, lang dauert es nicht mehr!“ rief ihm Herbert Wolf noch zwinkernd aus der Ecke zu, als auch schon der Gong zur zweiten Runde ertönte und Seidel wie eine Dampfwalze über unseren guten Herbert hinwegrollte. Jürgen Bauer hob die Kamera und begann zu filmen. Herbert hin in den Seilen, wurde angezählt, zwinkerte noch ins Publikum, erhob sich und ließ Seidel noch mal kräftig unter dem Gejohle des Publikums hinlangen. Natürlich hatte er sich, der alte Fuchs, hinter einer guten Doppeldeckung verschanzt, doch das Publikum wollte nur den entfesselten Seidel sehen und......

Der Jubel kannte keine Grenzen mehr, als Herbert die Hand zum Zeichen der Aufgabe hob, ohne auch nur einmal ernsthaft getroffen worden zu sein. Doch das hatte niemand so richtig bemerkt. Somit waren eigentlich alle zufrieden. Die „Selber“ Funktionäre hatten ihren Kampf, das Publikum hatte seinen Sieger, der CSC bekam seine volle Pauschale ausgezahlt, nur der Hauptdarsteller dieser Komödie war zu kurz gekommen. Denn als man sich im Frankfurter Südbahnhof den Kampffilm der Veranstaltung und insbesondere natürlich den Auftritt von Herbert Wolf ansehen wollte, da hatte der liebe Jürgen Bauer alle Kämpfe wunderschön aufgenommen, nur der letzt Kampf war zu kurz geraten. Da sah man lediglich einen in den Ringseilen baumelnden Herbert Wolf, der Komödie vorletzter Akt.

Der letzte Akt spielte auf der Frühjahrsmesse 1986 in Frankfurt. Da begegneten sich die beiden wieder. Seidel inzwischen Cheffahrer bei der Firma Rosenthal und Herbert als Besucher. Grimmig ging Herbert auf Seidel zu, beide lachten herzlich, schüttelten sich die Hände und hatten sich viel zu erzählen.............