Horst Gauss

Lupo, der Waldgeist

Lupo und Charly waren so richtig "arme Schweine" - wie man es landläufig zu sagen pflegt. Heinz Lichtenberg hieß er korrekt, Lupo war sein Spitzname; er wurde aber auch " Waldgeist" genannt, weil er so geisterhaft aussah. Stellen Sie sich mal einen vergammelten, ständig volltrunkenen Udo Lindenberg vor ... - dann wissen Sie in etwa, wie Lupo aussah. Er war allerdings so heruntergekommen, dass der Vergleich mit jenem Udo aus Hamburg fast einer Beleidigung gleichkommt.

Er war ja auch viel dünner als besagter Udo, und so blass, dass man befürchten musste, er würde jeden Moment aus den Latschen kippen. Und seine dünnen Haare hingen ihm strähnig bis auf die Schulter - er war fürwahr ein erbärmlicher Anblick! Wenn er den Mund aufmachte, wurde sein ungepflegtes Gebiss sichtbar - er hatte bei einer Schlägerei seine ganze Kauleiste verloren -, also da packte einen dann wirklich das Grauen. Außerdem hatte er ein Beinleiden - er zog das rechte Bein immer etwas hinterher -, aber dafür konnte er ja nichts. Doch dass er sich nie wusch und deshalb fürchterlich stank, das konnte man ihm schon übel nehmen.

Lupo bettelte sich seinen Lebensunterhalt zusammen, genauso wie sein Freund Charly. Der war ein kleinwüchsiger Marokkaner, der wohl schon mal bessere Zeiten erlebt hatte - wenn man seiner Erzählung glauben konnte. Angeblich war er mal Abteilungsleiter in einem Kaufhaus gewesen, und er war wohl nur deshalb auf die schiefe Bahn geraten, weil er die Unterhaltszahlung für seine Kinder nicht geleistet hatte. "Schiefe Bahn" konnte man das ja eigentlich nicht nennen, denn die beiden Jungs waren ja keine richtigen Kriminellen, sondern nur kleine Gauner, die zu faul waren, sich durch Arbeit Geld zu verdienen. Sie gingen halt lieber von Haus zu Haus und erbettelten sich das, was sie zum Leben brauchten. Sie gehörten auch keiner Bettler-Organisation an - wie die meisten Bettler, die "stationär" betteln durften. Stationär bedeutet: die Bettler halten sich immer in der Stadt auf, in der sie wohnen - im Gegensatz zu den "Wanderbettlern", die von Stadt zu Stadt ziehen! Dies nur zum besseren Verständnis!

Lupo und Charly mussten bei ihren Betteltouren also aufpassen, damit sie nicht von dem Bettlerkönig "Ede" erwischt wurden. Der hätte nämlich prompt ein Schutzgeld von ihnen verlangt.

Lupo silberte täglich so um die 100 Mark zusammen - wahrscheinlich, weil er so erbarmungswürdig aussah. Die Hausfrauen steckten ihm sicher schon deshalb etwas zu, damit er schnell wieder verschwand und damit sie sich seine angebliche Leidensgeschichte nicht anhören mussten. Für Charly war es schon schwieriger, an das Geld der Leute zu kommen. Doch da er so klein war, hatten sie Mitleid mit ihm, und wenn er sich schluchzend vor ihre Füße warf, konnte er meist mit einigen Münzen rechnen. So circa 60 Mark war sein Tageslimit!

Gemeinsam bewohnten sie in der Pension Reuter ein kleines Dachzimmer, das eigentlich mehr eine Abstellkammer war, für 30 Mark pro Tag. So kamen sie ganz gut zurecht, und sie lebten gar nicht mal so schlecht!

Es gab kaum eine Nacht, in der sie nicht sturzbesoffen in ihre Laken fielen. Für zwei nebeneinander stehende Schlafstätten war das Zimmer nämlich zu klein, und so schliefen sie in Betten, die übereinander angebracht waren. Erst hatte Lupo oben und Charly unten geschlafen. Doch da Lupo öfter mal ins Bett gepinkelt hatte und Charly durch das Geplätscher jedes Mal wach wurde, tauschten sie die Betten. Lupo schlief jetzt also unten - Charly oben.

Meist ließen sie ihr ganzes Geld in der Gaststube der Pension Reuter. Der Wirt hatte ihnen hinten im Lokal einen kleinen Tisch zugewiesen, unter der Bedingung, dass sie sich ruhig verhielten und die anderen Gäste sie möglichst nicht bemerkten.

So verging die Zeit für Lupo und Charly, bis eines Tages ein Mädchen die Kneipe betrat. Fortan änderte sich einiges!

Man sagt ja so leichterdings: "Auf jeden Topf passt ein Deckel!" Aber können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass eine Frau mit diesem stinkenden Lupo, der ständig im Vollrausch war, etwas zu tun haben wollte?! - Sie werden es kaum glauben, aber diese Frau wollte es! Es dauerte zwar nicht lange, doch immerhin schaffte er es fast, sich mit ihr zu verloben. Dass Christine - so hieß diese junge Frau - sogar ihr Abitur gemacht hatte und aus gutem Hause kam - ihr Vater betrieb die am meisten frequentierte Apotheke in der Kleinstadt, aus der sie kam -, ist beinahe nicht zu begreifen. Allerdings: Christine Marwig sah aus wie ein "Mondkalb"!

Sie wissen nicht, wie ein Mondkalb aussieht?! - Stellen Sie sich einen Kürbis mit zwei Augen vor - so rund war ihr Kopf. Ihre kurzsichtigen "Glupschaugen" wurden durch eine dicke Brille verunstaltet, und an ihrem unförmigen Körper war wirklich keine Grazie, kein Liebreiz zu entdecken. Natürlich hatte dies nichts mit ihren inneren Werten zu tun. Denn Christine war ein einfühlsames, herzensgutes Wesen und hatte für die Probleme ihrer Mitmenschen stets Verständnis.

Sie war bei ihrer Oma zu Besuch und wollte eigentlich nur mal schnell Zigaretten holen, als das Schicksal sie und Lupo zusammenführte. Der Zigaretten -Automat vor dem Haus funktionierte nicht, und deshalb ging Christine in die Gaststätte der Pension Reuter, um sich dort ihre Glimmstengel zu holen.

Ganz hinten im Lokal saß " Lupo, der Waldgeist" - Charly war nicht zugegen. Christine ging zielbewusst zum Zigarettenautomaten, jedoch fielen die Markstücke, die sie hineinsteckte, immer wieder durch. Fast hätte sie ihr Begehr aufgegeben, doch da bemerkte Lupo ihr Malheur. Vielleicht wollte er aber auch von vornherein die Chance nutzen, diese Frau kennenzulernen.

"Gnädige Frau, darf ich Ihnen behilflich sein?", perlte es nur so von Lupos Lippen. Nebenbei bemerkt: Das "Gnädige Frau" hatte er gut drauf, da er es immer bei den Hausfrauen anbrachte, wenn sie ihm bei seiner Betteltour die Tür öffneten. Von daher hatte er einen gewissen, einen eigentümlichen Charme, den er recht wirksam einzusetzen wusste.

Eigentlich wollte sich Christine von diesem ungehobelten Typen nicht ansprechen lassen. Doch die Sucht nach den Zigaretten ließ sie ein leises "Ja!" stammeln, und Lupo ergriff die Gelegenheit: Er nahm die Markstücke und spuckte drauf - sie konnte sich das gar nicht angucken. Doch diese Methode bewirkte, dass das Geld ins richtige Fach fiel und er ihr die gewünschten "Rot Händle" überreichen konnte.

"Dankeschön!", hauchte Christine und wollte sich gleich wieder entfernen. Doch Lupo rief ihr hinterher: "Gnädige Frau, Sie kriegen noch Geld zurück!" Und tatsächlich lagen in dem Ausgabefach die zuviel bezahlten Groschen.

Anscheinend überlegte Christine, ob sie sich die überhaupt holen sollte. Hätte sie voraussehen können, was anschließend auf sie zukommen sollte, hätte sie das Geld bestimmt liegen lassen ... - vielleicht aber auch nicht. Denn sie kam ja zurück, und Lupo griff nach der Chance seines Lebens.

"Gnädige Frau, darf ich Sie zu einem Getränk einladen?!"

Christine verneinte dies, sie wollte wirklich nichts trinken. Doch Lupo ließ nicht locker. "Gnädige Frau, können Sie mir mal helfen? Mir ist ein Zehmarkschein unter den Tisch gefallen, und ich komme mit meinem kaputten Bein nicht drunter!"

Christine zauderte und zögerte. Doch dann beschloss sie, dass sie dem jungen Mann ihre Hilfe nicht verweigern konnte, da er ihr ja behilflich gewesen war.

Sie hatte große Mühe, sich mit ihrem massigen Körper unter den Tisch zu begeben, und suchte vergeblich nach dem Zehnmarkschein - Lupo bestellte derweil heimlich eine Cola und ein Bier.

"Gnädige Frau, ich verstehe das nicht! Gerade hatte ich doch noch zehn Mark in der Hand!" Nun quälte auch er sich unter den Tisch, obwohl er wusste, dass es dort keinen Geldschein zu finden gab.

Christine war das alles sehr unangenehm. Lupo positionierte seine dünne Gestalt dann blitzschnell vor den Tisch, während sie sich abmühte, mit ihrem dicken Körper wieder unter dem Tisch hervorzukommen. Und da die Cola bereits auf dem Tisch stand, nahm sie die Einladung dann doch kurz entschlossen an.

Lupo strahlte. Da saß nun tatsächlich neben ihm dieses weibliche Wesen.

Sie war jung, wenn auch nicht schön, und sie war sehr schwergewichtig.

Aber sie war eine Frau! - Lupo sehnte sich schon so lange nach einer Frau, bei der er sein sexuelles Bedürfnis ausleben konnte. Nur einmal, da war er 18 gewesen, hatte er bisher das Glück gehabt, mit einer Frau intim zu sein. Doch es war eine Hure gewesen, die ihm nach dem Beischlaf sein Geld geklaut hatte. Diese Schmach wollte er jedoch jetzt schnell wieder vergessen!

Christine und Lupo kamen nur recht schleppend miteinander ins Gespräch. Ihr Kulturkreis und ihre Lebensumstände waren halt zu unterschiedlich: Christine hatte gerade erst ihr Abitur gemacht, sie verfügte über wenig Lebenserfahrung. Lupo hingegen, der durchtriebene Bettler aus der Altstadt, überlegte, wie er die Frau fesseln konnte. Er erzählte ihr dann eine seiner Leidensgeschichten, die er vom Anfang bis zum Ende erlogen und erstunken hatte. Er hatte sich ein ganzes Repertoire an angeblichen Lebensgeschichten zusammengedichtet. Und er spürte sofort, dass er das Mädchen damit an einem empfindsamen Punkt getroffen hatte. Denn es hörte ihm aufmerksam zu, und er glaubte sogar, eine verstohlene Träne auf ihrer Wange entdeckt zu haben. Klar, dass er ihr nichts von seinem Bettlerjob erzählte. Er schwindelte ihr vor, dass er Handwerker sei, und dass er einen lukrativen Job bei einer angesehenen Elektrofirma hätte.

Längst hatte Christine außer dem Cola sechs oder sieben Gläser Bier getrunken, und auch zwei Wodka. In ihrem bisherigen Leben gab es kein Bier und schon gar keinen Schnaps - ihr ehrenwerter Vater, der Herr Apotheker, hätte sich sicherlich Sorgen gemacht, wenn er seine angeschwipste Tochter jetzt sehen würde. Sie drängte zwar, dass sie zu ihrer Großmutter zurückgehen müsse, doch Lupo setzte sich immer so, dass sie mit ihrer Leibesfülle nicht an ihm vorbeikam. Und als sie mittlerweile Stunden zusammensaßen, wurde Lupo immer zutraulicher. Er jammerte und log, was das Zeug hielt. Doch woher sollte das 18jährige Mädel wissen, dass sie da gerade einem ganz üblen Schlawiner auf den Leim ging. Und einmal, an einer besonders schlimmen Jammerstelle, nahm sie sogar seine Hand in die ihre und tröstete ihn.

So viel Einfühlungsvermögen hatte "Lupo, der Waldgeist" noch nie erlebt. Das war endlich mal ein mitfühlender Mensch, der ihm wirklich zuhörte. Nun übertrieb er noch mehr, denn offenbar hatte er mitten hinein in ihren weichen Kern getroffen. Er tönte so laut, dass sich ein Gast beschwerte und der Wirt ihn ermahnen musste.

Christine war hin und her gerissen, als Lupo sie einlud, in seiner Behausung noch einen Kaffee zu trinken, und er argumentierte ganz schlau: "Dort können wir uns unterhalten, ohne die anderen Gäste zu stören!"

Christines genuscheltes "Ja - Jein!" klang zwar nicht überzeugt, denn eigentlich hatte sie ja, schon aus Anstandsgründen, "Nein!" sagen wollen. Aber sie traute sich nicht, diesen bedauernswerten Mann in seinem beklagenswerten Zustand alleine zu lassen, und sie wagte es auch nicht, weil sie nicht unhöflich sein wollte und weil ihr mangelndes Selbstbewusstsein es nicht zuließ. Der Alkohol hatte außerdem ihre Sinne vernebelt, und ehe sie es gewahr wurde, hatte Lupo sie schon an die Hand genommen und war mit ihr - ohne die Zeche zu bezahlen - zur Treppe gegangen, die zu seinem Zimmer hinaufführte.

Krampfhaft überlegte er nun, wie er ihr begreiflich machen konnte, dass er ja nur in einem Dachkämmerchen hauste, und dieses auch noch mit einem Freund teilte, der sicher bald kommen würde. Und in der Bude miefte es so fürchterlich, da das Fenster, das sowieso nie geöffnet wurde, klemmte. Das waren wahrhaftig keine gute Bedingungen für ihr erstes Rendezvous. Aber dann erhielt "Lupo, der Waldgeist" auf einmal einen Geistesblitz, der die verquere Situation retten konnte. Er ging mit ihr in den ersten Stock, blieb vor einer der Türen stehen und erklärte ihr, dass er hier in einer schönen Vierzimmerwohnung wohnen würde, allerdings ohne Balkon - das betonte er ausdrücklich.

Christine beteuerte, dass das doch nicht schlimm sei - vielmehr wurde ihr erst jetzt bewusst, dass sie mit einem fremden Mann vor dessen Wohnungstür stand. Sie war noch nie in solch einer Situation gewesen - die Jungens in der Schule hatten ja nie etwas von ihr wissen wollen.

Lupo tat so, als würde er den Schlüssel in seiner Tasche suchen - logischerweise vergeblich! "So'n Mist!", schimpfte er. "Den hab' ich wohl irgendwo vergessen. Was machen wir denn jetzt?"

Christine atmete erleichtert auf; fragend zog sie ihre kräftigen Schultern hoch.

Aber Lupo hatte natürlich gleich eine Lösung parat! "Wir können ja nach oben in den Personalraum gehen. Da ist es zwar eng und nicht so schön wie in meiner Wohnung, aber dort können wir uns jedenfalls in Ruhe unterhalten!"

Christine wunderte sich, dass diesmal ein klares "Ja" über ihre Lippen kam, bevor sie sich Gedanken über ihr bereitwilliges Verhalten machte: War sie wirklich so naiv, zu glauben, dass Lupo sich mit ihr unterhalten wollte? Oder fühlte sie etwa in sich so ein lüsternes Gefühl, so ein prickelndes Verlangen, das ihr vermittelte, diese Gelegenheit zu nutzen, um ihre sexuelle Lust endlich mal mit einem Mann zu erleben ... - auch wenn er noch so hässlich war?! - Sie schaute sich Lupo kritisch an. Der Supertyp war er ja nun wirklich nicht. Aber es würde ja niemand erfahren! Wenn er nur nicht so stinken würde. Sie konnte es kaum glauben, dass er in dieser Elektrofirma eine so gute Position hatte. So - oder ähnlich - hat sie wohl gedacht!

"Lupo, der Waldgeist" öffnete die Tür zu seinem Zimmer, schob Christine hinein und wollte sie hinter sich schließen. Aber es gelang ihm nicht.

Das konnte doch nicht wahr sein! Die Mansarde war so klein, dass sie sich nicht mehr darin bewegen konnten - und Christine mit ihrem Leibesumfang schon gar nicht. Sie stolperte und plumpste geradewegs - wie konnte es anders sein - in Lupos Bett.

Er, die fette Beute fest im Griff, knipste das Licht aus und schloss schnell noch die Tür ab. Dann ließ er sich ebenfalls fallen, und nun lagen sie also in seiner übelst riechenden, völlig verschmutzten Bettwäsche.

Beiden hatte es die Sprache verschlagen, aber das war wohl auch besser so. Denn das Ganze war mehr als grotesk!

Christine wollte sich seinem Klammergriff entziehen, doch plötzlich wurde ihr schwindelig, und in ihrem Kopf drehte sich alles. Und sie hatte nicht mit Lupos wortgewaltigem Frontalangriff gerechnet: "Liebe Christine, ich möchte dir etwas sagen!", begann er. Dabei zitterte er vor innerer Erregung am ganzen Körper, und Christine spürte, dass sein Bekenntnis eine große Bedeutung für sie haben könnte. " Ich liebe dich, wie ich noch nie in meinem Leben einen Menschen geliebt habe. Du kannst das vielleicht nicht verstehen, weil wir uns ja erst heute Abend kennen gelernt haben. Aber ich muss dir das jetzt sagen: Ohne dich hat das Leben für mich keinen Sinn mehr ... - ich möchte, dass du das weißt!"

Dieses Geständnis war für Christine eine völlig neue Erfahrung. Doch sie konnte darüber gar nicht so richtig glücklich sein, und sie konnte ihm auch nichts Gescheites oder gar Gleichartiges antworten, weil sie so betrunken war. Aber das erwartete Lupo wohl auch gar nicht. Er hatte seine Hände jetzt dort, wo sie eigentlich nicht hingehörten: er fingerte an ihrem Busen, fummelte unter ihrem Rock herum, und ihre prallen Reize übermannten ihn.

Auch Christine spürte ein angenehmes Kribbeln, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Zum Glück war es ja dunkel und sie konnte nicht sehen, dass Lupo sein Gebiss herausnahm, um sie leidenschaftlich zu küssen. Und da sie seine Zähne nicht spürte, meinte sie wohl, das wäre nun der berüchtigte Zungenkuss, von dem die anderen Mädels in ihrer Klasse sich so antörnen ließen. Doch dabei blieb es nicht, und Lupo wollte offenbar auch nichts mehr aus seinem leidvollen Leben erzählen. Stattdessen drangen glucksende und wollüstige Laute aus dem Zimmer, und Christines lustvolles Stöhnen war bis ins Parterre zu hören.

Als Charly volltrunken die Treppe hinaufstieg, wollte er sich natürlich in sein Bett legen. Doch was waren das für seltsame Geräusche, die aus der Mansarde drangen?

War das etwa Lupo? - Aber da war doch noch so'n sonderbares Gequietsche und Gestöhne! Er rüttelte an der Tür, aber sie war verschlossen. Er rief: "Lupo, mach auf!" Doch der fühlte sich in seinem Sinnesrausch empfindlich gestört. Für einen Moment hörte Charly nichts mehr. " Jetzt mach' doch endlich die Tür auf! Ich weiß doch, dass du da bist", rief Charly. "Und wenn du da gerade mit einer Frau zugange bist, dann lass' mich doch auch mal ran! Ich geh' dann ja auch wieder!"

Lupo war stinkesauer. Solch eine Unverschämtheit - das wollte sein Freund sein? Was dachte sich dieses Typchen überhaupt?!

Charly bettelte jetzt geradezu um Einlass. "Lupo, bitte! Lass mich doch auch mal! Ich hab' schon so lange keine Frau mehr gehabt ... - sei doch kein Spielverderber. Wir teilen uns doch sonst auch immer alles!"

Lupo wurde es entschieden zu dumm. Er riss die Tür auf, stürzte sich, ohne Hemd und ohne Hose auf Charly und brüllte ihn an: "Du Schwein, hau ab und lass dich hier nie mehr blicken!" Er schrie so laut, dass einige der Bewohner aus der unteren Etage aus den Türen schauten, und ihnen bot sich ein merkwürdiges Schauspiel: Charly wurde von dem humpelnden, nackten Lupo die Treppe runtergejagt, und die halbnackte Christine lief hinterher, um Lupo zu helfen.

Die Nachbarn fanden die nächtliche Ruhestörung empörend, aber sie waren auch entrüstet, weil sich Lupo und Christine ihnen so ungeniert präsentierten. "Verschwindet, sonst rufe ich Herrn Reuter an!", drohte einer.

Lupo humpelte daraufhin mit der "vergewohltätigten" Christine in die Mansarde zurück und beteuerte nochmals, wie heiß und innig er sie lieben würde.

Daraufhin ließ sie sich auf ein erneutes Liebesspiel mit ihm ein und schlich dann davon wie eine "reuige Katze", verwirrt und verzagt, weil sie ihrer Oma ja erklären musste, wo sie so lange geblieben war.

Aber als Christine vom "Zigarettenholen" zurückkam, meinte die Oma nur, dass das aber sehr lange gedauert hätte, und sie fragte lediglich, ob etwas passiert sei.

Christine konnte ihr natürlich nicht erzählen, was passiert war, und wie wichtig es für sie war. Sie schlich mit weichen Knien, zerfetzten Strümpfen und zerrissener Unterhose in ihr Zimmer, und die Oma wunderte sich, weil das Mädchen ihr plötzlich so verändert vorkam.

Wie das Leben so spielt!

Christine kam jetzt jeden Abend in die Gaststube der Pension Reuter, um sich Zigaretten zu holen, aber auch, um sich mit Lupo in dessen Dachzimmer zu verlustieren. Der Schlüssel für die Vierzimmerwohnung im ersten Stock blieb angeblich verloren, aber Christine war das mittlerweile egal. Sie liebte diesen eigenartigen Mann, der tagsüber angeblich brav seine Arbeit in der Elektrofirma verrichtete.

Die Oma war allerdings verärgert, weil Christine neuerdings zur Kettenraucherin wurde, und Charly war sauer auf Lupo, weil der nur noch an sich und sein sexuelles Vergnügen dachte, und er sich, dadurch bedingt, eine neue Bleibe suchen musste.

Inzwischen waren acht Tage vergangen, und Christine musste wieder zu ihren Eltern in die Kleinstadt zurück. Sie trat jetzt natürlich viel selbstbewusster bei ihren Eltern auf, da sie nicht mehr das unbedarfte und unerfahrene Mädel war. Sie war zur Frau gereift, und sie hatte sich vorgenommen, ihren Eltern nicht mehr so bedingungslos zu gehorchen, wenn die ihr Vorschriften machen wollten. Darüber hinaus nahm sie sich als neue Lebensaufgabe vor, aus Lupo einen vorzeigbaren Mann, einen "neuen Menschen" zu machen, damit sie sich mit ihm überall sehen lassen konnte. Schließlich hatte Lupo - so glaubte sie - einen guten Job bei der Elektrofirma, und das war für sie eine wichtige Grundlage für den Start in eine gemeinsame Zukunft.

Ihre Eltern waren außer sich, als Christine ihnen erzählte, dass sie sich mit einem Heinz Lichtenberg verloben wolle. Sie verboten ihr jeglichen Umgang mit ihm und wollten nichts davon wissen. Ihr Vater, der schöngeistige "Gotthilf", hatte Medizin studiert. Er hatte das Studium zwar nicht zu Ende gebracht, aber er kam aus einem gut situierten Haus und er führte die beste Apotheke im Ort. Da durfte er ja wohl von seiner Tochter erwarten, dass sie einen Mann aus besseren, standesgemäßen Kreisen erwählte, und nicht einen gewöhnlichen Arbeiter aus einer Elektrofirma.

Er dachte da eher an einen reichen Unternehmer - diesbezüglich hatte er schon den Nachbarssohn ins Visier genommen -, oder an den Sohn von Professor Stein. Das waren Leute mit Niveau, einem guten Ruf und nicht zuletzt mit Geld.

Doch er unterschätzte Christine. Die hörte sich eine Woche lang die Vorwürfe ihrer Eltern an - dann reichte es ihr. Sie packte heimlich ihre Sachen, verließ ihr Zuhause und fuhr per Anhalter zu ihrem Lupo.

Das war ein Wiedersehen!

Lupo schloss seine Christine überglücklich in die Arme. Selbstverständlich durfte sie bei ihm wohnen. So hausten sie einige Wochen in dem Dachzimmer, und an die Lustschreie, die jede Nacht zu hören waren, hatten sich die Nachbarn inzwischen gewöhnt. Lupo musste jetzt natürlich mehr Geld zusammenbetteln, da er nun ja noch eine Frau ernähren musste. Für ihn, den übereifrigen, überhöflichen Bettler, war das aber kein Problem. Auffallend war nur, dass er seitdem morgens immer etwas gepflegter aus dem Haus ging. Christine sollte ja glauben, er würde in der Elektrofirma seinem Broterwerb nachgehen. Sobald er dann sein jeweiliges Gebiet erreichte, zog er rasch seine Bettlerlumpen an, damit er seinen eigentlichen Job standesgemäß erledigen konnte. Auch hatte er seine Strategie geändert: Früher hatte er den Leuten immer vorgegaukelt, dass er verschuldet und wohnungslos sei. Neuerdings hatte er eine bessere Masche drauf, die ihm effektiver und auch ertragreicher erschien: Er verzog sein Gesicht jetzt immer zu einer fürchterlichen Grimasse, und die Leute steckten ihm schon deshalb rasch etwas zu, damit er nur schnell wieder verschwand.

Keine Frage, es war ein harter Knochenjob! Aber Lupo schaffte es, Christine jeden Abend das erworbene Geld zu geben, damit sie davon etwas einkaufen konnte, aber auch, damit sie davon etwas auf die hohe Kante legen konnte. Sie staunte über die tägliche Auszahlung, da ein Lohn ja normalerweise einmal im Monat auf ein Konto überwiesen wurde. Aber Lupo erklärte ihr dies als Abschlagzahlung, und das nahm sie dann als gegeben hin.

Jedoch machte "Lupo, der Waldgeist" einen verhängnisvollen Fehler: Er fuhr nicht mehr in die anderen Stadtteile, sondern ging jetzt direkt in der Nachbarschaft auf Betteltour.

Nach einigen Wochen hatten Lupo und Charly sich wieder versöhnt, obgleich der jetzt nicht mehr im oberen Bett in der Mansarde schlafen durfte. Er hatte sich nun unter der Kellertreppe in einem Verschlag ein Matratzenlager eingerichtet. Er schlief da ja nur - abends war er immer mit Lupo und Christine zusammen. Natürlich hatte er sich bei ihr für sein aufdringliches Verhalten entschuldigt, da er damals ja nicht ahnen konnte, dass es zwischen Lupo und Christine tatsächlich so sehr gefunkt hatte. Er erklärte ihr, dass er angenommen hätte, Lupo würde sich da mit einer Prostituierten vergnügen.

Auch Christines Eltern versöhnten sich mit ihrer Tochter, nachdem sie gemerkt hatten, dass es ihr wirklich ernst war mit Herrn Lichtenberg.. Sie wollten ihr einziges Kind nicht verlieren, und so waren sie wohl zu der Einsicht gelangt, dass sie gegen Christines große Liebe nichts ausrichten konnten. Der künftige Schwiegersohn war ja, nach Christines Erzählungen, ein anständiger und liebenswerter Mann, und das war letztlich entscheidend. Allerdings hoffte ihr Vater insgeheim, dass er vielleicht Herrn Lichtenberg dazu überreden konnte, das Abitur nachzuholen, um dann zu studieren. So betrachtet könnte er dann ja doch noch zu einem "angemessenen" Schwiegersohn werden. Und deshalb wollte er sich diesen bei der Verlobungsfeier mal vorknöpfen.

Ja, Sie haben richtig gelesen: Lupo und Christine wollten sich verloben!

Er hatte ihr von seiner Beförderung in der Elektrofirma erzählt, und dass er ihr Studium selbstverständlich finanzieren würde - Christine hatte sich nämlich der Philosophie zugewandt.

Die Verlobung sollte im engsten Familienkreis stattfinden; neben Christines Eltern wurden nur die Oma und natürlich Charly eingeladen.

Erwartungsvoll saß das Ehepaar Marwig also in dem Zug, der sie in die Großstadt bringen sollte, um die Verlobung ihrer Tochter mit Herrn Lichtenberg zu feiern. Während der Fahrt machten sie sich allerlei Gedanken: Was war das wohl für ein Mensch, dieser Heinz Lichtenberg? Würde er überhaupt zur Familie passen? Was würden wohl die Nachbarn zu ihm sagen? Vielleicht war er ja sogar vermögend?!

Einen Beruf, in dem er ein gutes Geld verdiente, hatte er ja - das hatte Christine ihnen ganz stolz erzählt. Es waren so viele elementare Fragen, mit denen sich das Ehepaar Marwig beschäftigte ... - schließlich wollten sie ja nur das Beste für ihr Kind. Außerdem hatten sie ihrer Tochter das Abitur ermöglicht, und nun wollten sie auch die Früchte ernten. Am liebsten, so sinnierten beide, wäre es ihnen ja, wenn Christine später mal als angesehene Gymnasiallehrerin in ihrer Ortschaft leben würde.

Sie kamen auf dem Bahnhof an nahmen sich ein Taxi, um in die Pension Reuter zu fahren. Herr Marwig war während der Fahrt furchtbar nervös; ihm lag viel daran, auf den ersten Blick eine gute Figur bei seinem künftigen Schwiegersohn zu machen. Sie schleppten ein großes Geschenkpaket in die Gaststube. Aber dort beschlugen Herrn Marwig erst mal die Brillengläser, und er konnte vor lauter Qualm nichts erkennen. Aber dann konnte er es nicht fassen. Hier sollte die Verlobungsfeier stattfinden?! - Die Eheleute Marwig wären am liebsten gleich wieder umgekehrt. Aber da kam ihnen bereits Christine entgegen und fiel erst dem Vater und dann der Mutter um den Hals. Die Eltern schauten ihre Tochter kritisch an. Sie hatte sich verändert, sah schlampig aus und wirkte noch aufgedunsener. Sie hatte sich viel zu dick Make-up ins Gesicht geschmiert und ihre Frisur war ein Unding! Die Eltern waren befremdet, versuchten aber dennoch, über diese eklatanten Mängel hinwegzusehen. Doch sie konnten es nicht glauben, dass der Tisch in der hinteren Ecke des Lokals, an dem sie Platz nehmen sollten, extrafein für die Verlobungsfeier hergerichtet worden war. Alsdann stellte Christine ihren Eltern ihren Verlobten vor. Lupo humpelte herbei - er hatte heute noch keinen Alkohol getrunken, um nur ja einen guten Eindruck zu machen. Sein hellgrünes Jackett passte nicht so richtig - er hatte es sich von einem Nachbarn ausgeliehen -, darunter trug er ein grauweißes Hemd mit speckigem Kragen, das von einer knallgelben Krawatte geziert wurde. Er hatte sich Brillantine ins Haar geschmiert und sich ein Duftwasser angetan, das er in einem Billig-Kaufhaus für eine Mark gekauft hatte, das aber seine eigene Duftnote nicht gänzlich überdecken konnte.

Herr Marwig rümpfte nicht nur die Nase, er schaute sich seinen "Schwiegersohn in spe" mit entsetzten Augen an. Das konnte doch nicht wahr sein! Seine Tochter mit solch einer Witzfigur?! Das war ein Gruselkabinett, ein Schmierentheater! Beinahe ungläubig registrierte er diese tatsächlich vor ihm stattfindende Groteske.

Lupo begrüßte Christines Eltern ganz souverän und unbefangen mit seinem durchaus gekonnt vogetragenen "Guten Tag, sehr verehrte, gnädige Frau! Guten Tag, gnädiger Herr! Mein Name ist Heinz Lichtenberg, bitte nehmen Sie Platz!"

Genau das wollten die Eheleute Marwig aber lieber nicht. Sie schauten sich an, dann schauten sie sich um. Am liebsten hätten sie diese ungastliche Stätte sogleich wieder verlassen, das war ihnen deutlich anzumerken.

Doch Christine hatte ihren Bittebitte-Blick aufgesetzt, sodass ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als Platz zu nehmen. Niemals zuvor waren sie in solch einem schäbigen Lokal gewesen. Die Runde wurde komplettiert mit Charly, der schon reichlich betrunken war und Mühe hatte, sich zu artikulieren.

Dann kam Christines Oma. Die alte Dame schaute großzügig über das triste Ambiente hinweg; sie freute sich viel zu sehr, dass sie die Familie endlich mal wieder in einträchtiger, friedlicher Feierlaune antraf, nebst dem Familienzuwachs. Selbst Charly begrüßte sie ausgesprochen herzlich.

Lupo rief dem Kellner mit einer großspurigen Gestik zu: "Karl, bring' mal Sekt und Gläser!" Der registrierte dies mit einer hochgezogenen Augenbraue, brachte die gewünschte Flasche nebst sechs Gläsern und knallte drei Speisekarten auf den Tisch.

Lupo goss mit zitternden Händen das prickelnde Getränk ein.

"Ist Ihnen nicht gut, Herr Lichtenberg?", fragte Frau Marwig besorgt.

"Es ist alles ok, es ist nur die Aufregung, gnädige Frau!", stammelte Lupo. Und nachdem die Gläser gefüllt waren, stießen alle gemeinsam auf das junge Glück an. Herr und Frau Marwig nippten nur ein wenig vom Rand der verklebten Sektgläser.

Lupo war dieser anspruchsvollen Situation nicht so ganz gewachsen, da er mit solchen gebildeten, gleichsam vornehmen Leuten normalerweise nicht verkehrte. Er eilte auf die Toilette und zog sich erst mal zwei Flachmänner rein, um sich in Form zu bringen. Danach kehrte er um einiges selbstsicherer an den Tisch zurück.

"Also, liebe Familie Marwig!", begann er seine Ansprache. "Ich freue mich, Sie endlich kennen lernen zu dürfen. Sie wissen ja, warum ich Sie eingeladen habe. Christine und ich wollen ein gemeinsames Leben beginnen, und ich bitte Sie, sehr verehrte, gnädige Frau, und sie, sehr geehrter Herr Marwig, um Ihr Einverständnis. Somit bitte ich Sie um die Hand Ihrer Tochter!" Er schaute in die Runde, ob das auch bei allen angekommen war, bevor er beherzt weitersprach: "Ich werde Ihre Tochter glücklich machen, und ich verspreche Ihnen ..."

"Nein, nein, nein!", unterbrach ihn Frau Marwig, die sichtlich nach Fassung rang, mit schriller Stimme. "Jetzt ist aber Schluss, nicht wahr, Gotthilf?!"

Herr Marwig räusperte sich etwas verschämt und meinte vorsichtig, dass Christine ja noch so jung sei, und dass sie ja erst mal studieren müsse, und dass sie ja noch so viel Zeit hätte, um über ihr künftiges Leben zu entscheiden.

"Aber wir lieben uns doch!", dröhnte Lupo aufgebracht.

Charly grinste und nickte eifrig bemüht, und Christine fing bitterlich an zu weinen. Ihr Mondkalbgesicht wurde noch runder und noch unansehnlicher, da die dick aufgetragene Schminke sich mit ihren Tränen vermengte und als undefinierbare Spurenelemente an ihren Wangen herunterliefen.

"Ihr könnt jetzt sagen, was ihr wollt! Ich bleibe bei meinem Lupo! Ich gehe nicht mit euch zurück!", bestimmte sie und schnappte nach seinem Arm, um sich bei ihm einzuhängen. Dabei riss die Naht an seinem Ärmel und Lupo brüllte unbeherrscht: "Scheiße! - Mein einziges gutes Jackett ist nun am Arsch!"

"Was meinten Sie soeben?", frage Herr Marwig reichlich konsterniert, weil er meinte, sich verhört zu haben.

Aber Lupo war nun alles egal, und der Alkohol verhalf ihm zu der tolldreisten Aussage: "Ach, das ist doch alles Scheiße hier! Wenn ihr keinen Bock auf die Verlobung habt, dann leckt mich doch am Arsch! Dann feiern wir eben alleine!"

Gotthilf Marwig war entsetzt! - So viel Primitivität und Widerwärtigkeit auf einen Haufen war ihm noch nie begegnet.

Charly grinste breitmäulig und stimmte Lupo zu; die Oma nippte an ihrem Sektglas und schaute sich das Spektakel seelenruhig an.

Die Eheleute Marwig waren aufgesprungen, um die ungastliche Stätte sofort zu verlassen. Christines Mutter bat ihre Tochter inständigst, doch mit ihnen zu kommen. Aber Christine fing erneut an zu heulen und weigerte sich.

Einige Gäste im Lokal beschwerten sich über den Krach und Tumult, der in der hintersten Ecke des Lokals entstanden war.

Lupo musste jetzt zeigen, dass er Herr der Lage war, obwohl er schon mehr als angeheitert war. Er stellte sich so bedrohlich vor Gotthilf Marwig auf, dass der ihm nicht ausweichen konnte und sich widerwillig setzte. Auch Frau Marwig nahm etwas unschlüssig ihren Platz wieder ein, und Lupo setzte sich neben sie.

"Ach, Frau Marwig!", sagte er zu ihr. "Warum sind Sie denn bloß so sauer? Wir sind doch alle nur Menschen. Komm, wir trinken noch einen! Ich bin der Lupo, und wie heißt du?" - Er streckte ihr seine Hand entgegen, und sie bekam einen knallroten Kopf. Schweißperlen rannen ihr übers Gesicht, und es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als seine schmierige Hand und auch das vertrauliche Du anzunehmen.

"Ja, Ja! Ich bin die Maria und mein Mann heißt Gotthilf!", stammelte sie nur noch.

Und schon schrie Charly durchs Lokal: "Noch 'ne Runde auf Maria und Gotthilf!"

Der Kellner brachte die nächste Flasche Sekt, Charly hakte sich einfach bei dem Ehepaar ein und begann zu schunkeln, dabei grölte er lauthals: "Heute blau, und morgen blau, und übermorgen wieder ...!"

Christine hatte ihren Lupo ebenfalls eingehakt, der nahm den Arm der Oma, und sang und schunkelte aus Leibeskräften, weil er froh war, dass endlich eine positive Stimmung herrschte.

Gotthilf Marwig konnte sein Entsetzen nicht verbergen. War das wahrhaftig seine Familie, und war das wirklich er, der in diesem dreckigen Lokal in dieser kuriosen Runde saß? - Und dieser widerliche Charly, der jetzt das Glas hob, ihm auffordernd in die Augen schaute und lauthals grölte: "Dem Spender sei ein Trullala, Trullala, Trullala, vielleicht ist noch ein Spender da, Spender da!"

Gotthilf Marwig hätte sich am liebsten klammheimlich verdünnisiert. Doch der heitere Spruch "Mitgegangen - mitgefangen!" schien sich hier verselbständigt, mehr noch: verwirklicht zu haben.

Lupo schrie jetzt für alle im Lokal vernehmlich: "Und jetzt erheben wir uns und stoßen auf unsere gemeinsame Zukunft an!" Und dann sang er: "Ein Prosit, ein Prosit, der Gemütlichkeit", und fügte hinzu: "Zur Mitte, zur Titte, zum Sack - zack, zack!"

Das letzte "Zack" war auch Gotthilf über die Lippen gehuscht - er war über sich selbst erschrocken und schaute sich um, ob es jemand mitbekommen hatte.

Was würden bloß seine Kunden, die Nachbarn und Freunde aus seinem Heimatort sagen, wenn sie ihn, den braven Gotthilf, hier sehen würden - zwischen diesen asozialen, ekelhaften Typen. Und einer von diesen Ekelpaketen sollte sein Schwiegersohn werden?!

Christine hatte sich nun zwischen die Mutter und die Oma gesetzt und bat beide um Verständnis für ihre Entscheidung, dabei schaute sie ihren Lupo andauernd liebevoll an.

Der orderte beim Wirt eine Lokalrunde; er bemerkte nicht, dass ein paar Tische weiter ein Mann und eine Frau saßen, die verärgert zu ihm rüberschauten und miteinander tuschelten. Auf einmal stand die Frau auf und kam schnurstracks an den Tisch. "Sagen Sie mal - ja, Sie!", dabei zeigte sie unmissverständlich auf Lupo.

Der versuchte, sich möglichst klein zu machen, aber es nutzte ihm nichts.

"Sie waren doch neulich an meiner Tür und haben von mir fünf Mark erbettelt. Und hier führen Sie sich auf, als wären Sie der Krösus höchstpersönlich! Das ist doch Schwindel, das ist ein Fall für die Polizei!"

Christine saß wie erstarrt da - ihr entglitten alle Gesichtszüge. Ihre Eltern starrten Lupo wie eine Schmeißfliege an, nur die Oma schien nicht zu kapieren, was vor sich ging.

Aber Lupo meinte nur so leichthin, dass das hundertprozentig eine Verwechslung wäre, dass er diese Frau noch nie gesehen hätte, und er wollte sie mit "Gnädige Frau, beruhigen Sie sich doch!" besänftigen.

Doch nun pöbelte sie erst recht los: Ja, genau! Sie mir Ihrem Gesäusel `Gnädige Frau!´ - Tun Sie doch nicht so! Sie hätten sich ja fast vor mir auf den Boden geschmissen, als Sie mir wie ein reuiger Sünder erzählten, dass sie gerade erst aus dem Gefängnis gekommen wären. Und dass Sie ja so hilflos und völlig mittellos wären, und dass man Ihnen doch noch eine Chance geben sollte!"

Für einen Augenblick sackte Lupo in sich zusammen und sah nun wirklich wie ein armer Sünder aus. Es stimmte ja, er war wirklich erst vor ein paar Monaten aus dem Knast gekommen, und luxuriös lebte er ja nun, weiß Gott!, nicht. Insofern hatte er also gar nicht gelogen.

Aber die Frau ereiferte sich weiter: "Ich blöde Kuh hab' Ihnen sogar fünf Mark gegeben, weil ich Mitleid mit Ihnen hatte. Und Sie laden hier großkotzig alle Gäste ein - von meinem Geld! Das ist eine Unverschämtheit!"

Das fand auch ihr Mann, der mittlerweile an den Tisch getreten war und Lupo links und rechts Knallohren verpasste, dass ihm das Hören und das Sehen verging.

Diesen Moment der totalen Verwirrung nutzten Herr und Frau Marwig geschwind aus, um sich davonzumachen. Der Vater schnappte seine Tochter, die diese Offenbarung über ihren geliebten Lupo gar nicht so schnell begreifen konnte. Willenlos ließ sie sich mitzerren, während die Mutter die Oma am Arm packte, die gar nicht so genau mitbekommen hatte, was da eigentlich vor sich ging. "Es fing doch gerade an, lustig zu werden!", sagte sie und wollte wieder an den Tisch zurück.

Doch für das Ehepaar Marwig gab es jetzt kein Vertun mehr! Sie verließen die Stätte des Grauens geradezu fluchtartig und warteten vor dem Lokal auf ein Taxi, das sie schleunigst zum Bahnhof bringen sollte.

Christine flennte haltlos vor sich hin - ihre Fettmasse bebte bei jedem Schluchzer.

Sie wollte zu ihrem Lupo zurück und jammerte, dass das bestimmt eine bösartige Unterstellung wäre, und dass ihr Lupo es gar nicht nötig hätte, sich Geld zu erbetteln.

Doch dann erledigte sich alles Weitere von selbst und sogar Christine sah ein, dass ein weiteres Zusammenleben mit Lupo nicht mehr vertretbar war.

Denn plötzlich ging die Tür vom Lokal auf, Lupo kam heraus, warf sich vor ihr und vor ihrer Mutter auf den Boden und heulte wahrhaftig wie ein geprügelter Hund. Er gestand ihnen alles - ob sie es hören wollten, oder nicht: dass er im Gefängnis gesessen hätte; dass er früher mal drogenabhängig war, dass er zweimal aufgrund von Alkoholmissbrauch eine Entziehungskur machen musste, dass er fünf uneheliche Kinder hatte, zweimal geschieden war, und dass er 150.000 Mark Schulden hätte. Und dass er diese Chance nutzen wolle, um ein neues Leben mit Christine zu beginnen, weil er sie doch so heiß und inniglich ..."

Die letzten Worte konnte er jedoch nicht aussprechen, da Karl, der Kellner aus dem Lokal stürmte und dem Schauspiel ein bizarres Ende bereitete. Er trat Lupo kräftig in den Hintern, so dass dieser einen ungewollten Satz nach vorne machte - und Charly bekam gleich einen Tritt mit !