Horst Gauss

Kriegsende in Ostritz

Die Klasse 3 a der Volksschule in Ostritz 1945. Ganz unten rechts im Eck, der Junge mit dem Mondgesicht, das ist der kleine Horst Gauß.

so erlebte ich den Einmarsch der Russen

Als knapp 8-jähriger (Jahrgang 1937) erlebte ich 1945 das Kriegsende in Ostritz an der Neiße. Meine Mutter und ich wohnten ursprünglich in Dresden, in der Ostraallee 8, fast neben dem Zwinger. Meine Mutter war schwer lungenkrank, und so kam ich mit der Kinderlandverschickung 1944 nach Ostritz und wohnte zunächst bei einer Familie Kopsch oder Kubsch. Ich ging dann in Ostritz in die Schule. 1945 kam ich zur Familie Hauptfleisch in der Schützenstraße 30. Ich war damals als kleiner Pimpf natürlich Verehrer der Hitlerjugend, die sich immer auf dem Marktplatz traf, und ich marschierte öfter mit und lernte die Fahrtenlieder. Das imponierte mir damals sehr. Ich hatte auch eine schwarze Hose mit den beiden typischen großen Oberschenkel - Taschen und ein braunes Hemd. Die Rangabzeichen der HJ bastelte ich mir aus Buntpapier zusammen und auch einen schwarzen Riemen, der quer übers braune Hemd befestigt war, hatte ich mir besorgt. So lief ich immer beim Jungvolk mit und wurde natürlich immer wieder weggejagt. Ich war ja noch keine 10 Jahre alt.

Als die russische Front näher rückte, wurden die Flüchtlingsströme durch Ostritz gen Westen immer größer und beängstigender. Ich saß natürlich stundenlang auf dem Marktplatz und beobachtete die großen Flüchtlingszüge. Kühe, die tagelang nicht gemolken worden waren, schrien vor Schmerzen und die Menschen waren in Panik. Noch war die Wehrmacht in Ostritz. Ich schlich mich fast jeden Tag zu den Soldaten und machte für sie kleine Besorgungen. Ich hörte dann immer öfter von Zusammenbruch und Flucht, aber auch von der Zuversicht, dass sich alles noch zum Guten wenden würde, weil der Führer ja noch eine Wunderwaffe hatte, nämlich die V 2. Ich vergesse nie, wie die große Panzersperre auf der Görlitzer Straße, in der Nähe der Schützenstraße, von russischen Fremdarbeitern errichtet wurde. Die Arbeiter waren teilweise in unserem Hinterhaus einquartiert. Hunger musste ich eigentlich nie leiden. Familie Hauptfleisch sorgte gut für mich.

Doch die Tage wurden immer unruhiger je näher die Front rückte und ich sah, wie alle meine Freunde und ihre Familien Ostritz verließen. So viel ich mich noch erinnern kann, verschwanden auch die letzten deutschen Soldaten. Ich bekam mit, wie die noch verbliebenen Familien versuchten, die einmal errichtete Panzersperre wieder zu beseitigen, weil man befürchtete, dass die Russen dann schießen könnten, wenn ihr Vormarsch Richtung Westen durch die Panzersperre aufgehalten würde. Es wurde viel diskutiert. Jeder hatte einen anderen Vorschlag, wie man sich ergeben sollte. Alle hatten fürchterliche Angst vor den Russen. Vergessen werde ich nicht, wie die Hitlerfahnen und Bilder auf dem Marktplatz verbrannt wurden. Für mich damals unverständlich und ich versuchte, das Feuer auszutreten.

Dann war es tagelang totenstill in Ostritz. Außer den in großer Höhe fliegenden russischen Bomber-Geschwadern, die Richtung Westen unterwegs waren, und ab und zu einem fernen Geschützdonner von der Front, hörte man nichts. In den letzten Tagen, bevor die Russen kamen, war Ostritz menschenleer. Ich weiß nicht, wie viele Familien damals in Ostritz zurückblieben. Ich glaube, es waren keine 50 Menschen. Ich ging natürlich auf Entdeckungsreise und stieg in wildfremde Wohnungen ein, die alle leer standen. Ich nahm Uhren und anderen Schmuck mit, weil ich dachte, das wäre nicht schlimm. Die Menschen würden nicht wiederkommen, und bevor es die Russen bekämen, wollte ich es lieber haben. Ich durchsuchte Geschäfte, probierte Anzüge an und nahm auch den einen oder anderen Gegenstand, den man gut gebrauchen konnte, mit. Auch die Schule war verlassen. Ich dachte, da kommt niemals einer wieder. Und so klaute ich mir aus dem Biologieraum die schönsten ausgestopften Tiere, wie Füchse, Hasen, Rehe, Eichhörnchen usw. und nahm sie mit in die Schützenstraße und versteckte sie in den Fremdarbeiter-Unterkünften. Die Arbeiter waren schon längst weg. Ich hörte oft stundenlang am Volksempfänger die Meldungen über die nähernden Fliegerverbände und hoffte immer insgeheim auf eine Kriegswende.

Auch von der Hitlerjugend sah ich niemanden mehr. Dann wurde der Donner immer lauter. Die Deutsche Front war anscheinend zusammen gebrochen. Jetzt konnten die Russen, vor denen wir alle solche Angst hatten, nicht mehr sehr weit sein. Stündlich wurden die Panzerspitzen erwartet. Familie Hauptfleisch und zwei andere Familien hatten sich entschlossen, nicht zu fliehen, sondern die Russen in Ostritz zu erwarten. Am Marktplatz bei einer befreundeten Familie versteckten wir uns im Keller. Unser Vorteil war, dass wir einen Mann im Keller bei uns hatten, der ein wenig russisch konnte. Die Stunden rannten dahin, die Gespräche der Erwachsenen wurden immer beunruhigender. Auch ich hatte richtig Angst. Würden die Russen Ostritz beschießen? Waren wir sicher im Keller? was würden die Russen tun, wenn sie nach Ostritz kommen? Würden sie alle Deutschen, die noch da waren, erschießen? Deutschen Widerstand gab es damals, so glaube ich jedenfalls, schon seit Tagen nicht mehr. Ab und zu detonierte ein Geschoss, einmal so nah an unserem Haus und mit solcher Wucht, dass ich von der Kartoffelkiste fiel, auf der ich saß. Das sah sehr lustig aus, aber keiner lachte, zu ernst war die Situation. Die Russen konnten ja Ostritz in Schutt und Asche schießen! Dann war wiederum stundenlang Totenstille. Ab und zu ging einer mal nach oben und lugte durch die Haustür. Aber noch war nichts zu sehen. Erst am Abend hörte man dann aus weiter Ferne unheimliches Motorengeräusch. Ein Geräusch, das ich nie vergessen werden. Das mussten russische Panzer sein. Doch es vergingen wieder Stunden, qualvolle Stunden, in denen wir uns die schlimmsten Gedanken machten. Die Geräusche, Kettenrasseln, kamen Stunden für Stund näher. Und dann, irgendwann die ersten russischen Stimmen!

Die Angst in uns stieg ins Unermessliche. Die russischen Panzer formierten sich auf dem Marktplatz. Manchmal hörten wir schreckliche Schreie, Schüsse und schrille russische Stimmen. Aber keiner wusste, was draußen passierte. Die Stimmen kamen manchmal sehr nahe zu uns, um dann wieder zu verschwinden. Einmal hörten wir Stiefelgetrampel auf der Kellertreppe, aber die Tür öffnete sich nicht. Die Schritte verschwanden wieder. Dann hörten wir lautes Befrreiungs-Gejohle von betrunkenen Russen. So saßen wir, nach Ankunft der Russen, sicherlich noch mal zwei Stunden in Todesangst in unserem Keller. Und dann war es endlich so weit. Laute Stimmen näherten sich. Die Russen hatten anscheinend angefangen, die Häuser zu durchsuchen. Die Tür ging auf. Ich machte mich ganz klein in meiner Kartoffelkiste und hörte nur, wie unser Dolmetscher sofort die Initiative ergriff und auf den Russen, der mit vorgehaltenem Gewehr vor ihm stand, einredete. Die Unterredung dauerte nicht lange, es passierte nichts, der Russe hatte mit uns Mitleid. Und dann mussten wir alle den Keller verlassen und uns ins Wohnzimmer im Erdgeschoss begeben, immer von einem Russen bewacht, der mit seinem Gewehr vor unserer Nase herumfuchtelte. Dort mussten wir alle Platz nehmen. Ich schlich mich aus dem Haus und sah auf dem Marktplatz viele russische Panzer und natürlich viele seltsame Gestalten. Ich weiß nicht, was für eine russische Einheit Ostritz einnahm. Ich weiß nur, dass die Soldaten alle sehr klein waren, von oben bis unten mit Pickeln übersät waren (Krätze) und fürchterlich stanken. Sie waren alle gut gelaunt und zwinkerten mir teilweise zu. Das machte mir natürlich Mut. Ich wurde zutraulicher, und ich stieg sogar zu einem Russen in den Panzer. Er schenkte mir eine Tüte mit Zucker. Jetzt wurde ich natürlich aufgeschlossener und begann meine Umgebung zu erforschen. Ehrlich gesagt, ich habe keine einzige Gewalttat miterlebt. Die Russen waren alle sehr nett, auch zu den andern beiden Familien, die sich jetzt auch auf den Marktplatz wagten. Mein erstes, unbewusstes sexuelles Erlebnis fiel allerdings auch auf diesen Tag. Ich ging also zu unserem Haus in der Schützenstraße. In der Wohnung von Familie Hauptfleisch im Parterre tobten, tanzten und soffen viele Russen. Das Klavier der Hauptfleischs hatte es ihnen angetan. Sie trampelten darauf herum, wussten sicherlich nicht, was das für ein Instrument war. Sie feierten ihren Sieg. Als ich im 1. Stock in mein Zimmer wollte, sah ich durch einen Spalt ins Schlafzimmer von Familie Hauptfleisch und sah unser hübsches russisches Dienstmädchen, das viele Monate als Zwangsarbeiterin für Hauptfleischs gearbeitet hatte, im Ehebett der Hauptfleischs, wie sie sich mit zwei Rotarmisten, vermutlich zwei Offizieren, vergnügte. Ich wusste damals allerdings noch nicht, was die da taten. Aber vergessen habe ich diese Szene nicht. Übrigens haben wir diesem russischen Dienstmädchen - den Namen weiß ich nicht mehr - sicherlich unser Leben zu verdanken, denn sie legte bei den Besatzern ein gutes Wort für uns ein. Hier zahlte sich aus, dass das Mädchen von der Familie Hauptfleisch immer gut behandelt worden war. Ja, und dann saßen wir da die ganze Nacht mit ca. 15 Personen vor lauter Angst im Wohnzimmer und wurden alle halbe Stunde von einem betrunkenen Russen beglückt, der mit vorgehaltenem Gewehr "Uri, Uri" stammelte und böse wurde, wenn er nichts bekam. Gott sei Dank, hatten die Frauen genügend Schmuck und Uhren. Aber diese Nacht voller Angst und Ungewissheit, wie die Russen eventuell reagieren könnten, werde ich ebenfalls nicht vergessen. Es folgte eine unruhige Nacht. Je später es wurde, um so mehr tranken die Russen und um so hemmungsloser wurden sie. Der gute Eindruck vom frühen Abend wurde zunehmend getrübt. Die Russen tobten, lachten und amüsierten sich. Sie wurden unberechenbar. Wie es dann weiterging, weiß ich nicht mehr. Sicherlich haben die Hauptfleischs und die beiden anderen Familien alles gut überstanden. Doch werde ich nie im Leben vergessen, wie dann fast jeden Tag kilometerlange Schlangen mit deutschen Kriegsgefangenen gen Osten durch Ostritz marschierten. Ich saß stundenlang am Straßenrand und beobachtete die Kolonnen. Die russischen Soldaten, die die Gefangenen bewachten, waren sehr hart zu den geschundenen Landsern. Ich weiß noch, dass sie die mit Wasser gefüllten Wannen und Krüge, die die deutschen Frauen für die geplagten Gefangenen auf die Straße gestellt hatten, mit ihren Militärfahrzeugen kaputtfuhren. Ach ja, vergessen habe ich natürlich auch nicht - es traf mich ja auch sehr hart - dass ich schweren Herzens meine geliebten Füchse, Hasen, Rehe usw. wieder zurückbringen musste, als die Schule nach einigen Wochen wieder begann.