Horst Gauss

Gottfried, der Nikolaus

Eine besinnliche Weihnachtsgeschichte

"Morgen, Kinder, wird`s was geben - morgen werdet ihr euch freuen ... " - das ist ein beliebtes deutsches Weihnachtslied. Wer kennt es nicht, und wer erinnert sich nicht an die gemischten Gefühle der Kinder, wenn der Nikolaus mit bangem Respekt erwartet wurde? Mit einer Mischung aus Vorfreude, aber auch Verzagtheit ... - denn wohl fast jedes Kind hat schon mal mit der berüchtigten Rute des Nikolaus mehr oder weniger gute Erfahrungen gemacht!

Wie sehr sie sich diesmal auf den Nikolaus freuten - Klausi und Mausi, die Jüngsten der Familie Scholz. Und sie sollten auch nicht enttäuscht werden, denn am nächsten Tag gab es tatsächlich etwas ... - allerdings nicht die erwarteten Süßigkeiten und Spielsachen, die der Nikolaus ihnen üblicherweise brachte, sondern der penetrante Auftritt eines üblen Zeitgenossen !.
Dabei hatte der Nikolausabend so feinsinnig und auch so romantisch angefangen: Professor Scholz saß in seinem gemütlichen Wohnzimmer und erfreute sich an einer Weihnachtsgeschichte aus einem Büchlein mit dem schönen Titel: "Süßer die Glocken nie klingen". Er holte es jedes Jahr zur Adventszeit aus seinem Bücherregal, um sich damit in eine feierliche Weihnachtsstimmung zu bringen. Aber vielleicht war es diesmal nicht der richtige Text, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort?! - Er konnte ja nicht ahnen, dass er nur wenig später die unverschämten Rülpser eines betrunkenen Penners zu hören bekommen sollte - statt der erhofften, süß klingenden Glocken. Und dass es für die Familie, insbesondere für seine Frau und ihn, von einem besoffenen Stadtstreicher Prügel geben sollte, statt Geschenke und gute Worte für die Kinder, das hätte er schon gar nicht für möglich gehalten. Dabei sollte es für die Familie Scholz in diesem Jahr ein besonders schönes Nikolausfest werden: Klausi und Mausi, die niedlichen Kleinen, sollten nämlich von einem richtigen Nikolaus überrascht werden. Papa Scholz, Professor der Philosophie, hatte in der Zeitung ein Inserat gelesen, dass man bei der Arbeitslosen-Selbsthilfe-Gruppe "Freudenbringer", ASG genannt, einen Nikolaus mieten konnte. Und er fand, dass das eine gute Idee war! Nicht er selbst würde die Maske mit dem grauen Bart aufsetzen und in den roten Nikolausmantel schlüpfen - zumal er, der Herr Professor, bei seinem Auftritt im letzten Jahr so linkisch und so unecht gewirkt hatte, dass Klausi und Mausi bezweifelt hatten, ob es tatsächlich der Nikolaus war; sie hatten ihn sogar ausgelacht und keinerlei Achtung vor seiner ehrwürdigen Erscheinung gezeigt. Das sollte in diesem Jahr nicht passieren, diesmal sollte ein "echter", ein fremder Nikolaus die beiden Jüngsten im Hause Scholz beglücken. Seine Frau war über diese Idee entzückt; sie hatte einen Tag zuvor kleine Spielsachen und Süßigkeiten zu den "Freudenbringern" von der ASG gebracht, und dort sagte man ihr zu, dass das kein Problem sei: am 6. Dezember, pünktlich um 18.00 Uhr, würde ein Nikolaus vor der Tür stehen, ausgestattet mit der entsprechenden Kostümierung, der Rute, dem Sack voller Spielzeug und Süßigkeiten, und natürlich auch mit einem angemessenen Spruch für die lieben Kleinen. Auch der Kostenaufwand für den Nikolaus, 100,-- Mark, war nicht zu hoch, und außerdem tat man ja auch noch etwas Gutes, indem man einem armen, arbeitslosen Mann zu einem kleinen Nebenverdienst verhalf. So saß also die Familie Scholz erwartungsvoll in der guten Stube und wartete auf das, was da kommen sollte. Die Kerzen brannten, Adventslieder wurden gesungen, und Klausi und Maus freuten sich auf den Nikolaus. Ab und zu schauten sie aus dem Fenster auf die verschneite Straße, ob er denn nicht endlich kommen würde.

Pünktlich um 18.00 Uhr klingelte es an der Haustür. Frau Scholz eilte in den Flur und rief ihren Kindern zu: "Ich sehe einen roten Mantel - ich glaube, draußen steht der Nikolaus! Sollen wir ihn reinlassen?! " "Ja, Ja, Ja! ", schallte es mehrstimmig aus dem Wohnzimmer, auch des Professors Stimme war zu hören. Das Freudenfest konnte also endlich beginnen. Frau Scholz öffnete mit einem freundlichen Lächeln die Tür, doch augenblicklich versteinerte sich ihre Miene. Es wirkte so, als hätte sie die Tür am liebsten gleich wieder zugemacht. Denn vor ihr stand ein total betrunkener Mann in Nikolauskleidung, der sich lallend als "Gottfried, der Nikolaus" von den "Freudenbringern" der ASG vorstellte. Er habe ein wenig getrunken, gab er zu, aber er würde seinen Job problemlos erledigen. "Nein", rief Frau Scholz energisch, "gehen Sie bitte! " Sie wollte ihn sanft hinausdrängen, doch der betrunkene Nikolaus namens Gottfried ließ sich nicht abwimmeln und stolperte ins Haus - geradewegs in ihre Arme. Er lallte zwar ein "Entschuldigung! ", aber seine Alkoholfahne war für sie unerträglich. Ihr war deutlich anzumerken, was sie dachte: "Wie können die von der ASG "Freudenbringer" uns nur solch einen ungehobelten Nikolaus schicken - der Kerl ist eine Zumutung, aber kein `Freudenbringer´! " In der linken Hand hielt er einen Rucksack, in der rechten eine halbleere Bierflasche und eine überdimensional große Rute. "Wo sind denn die lieben Kleinen? ", säuselte er und torkelte an Frau Scholz vorbei ins Wohnzimmer. Dort setzte er seinen Rucksack ab, da er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, und lehnte sich erst mal an den nächstbesten Stuhl. Klausi und Mausi schauten den Nikolaus skeptisch an; sie waren offensichtlich nicht begeistert von dem guten Mann, der angeblich aus dem Wald gekommen war, um ihnen eine Freude zu machen. Sie fürchteten sich sogar vor ihm und hielten sich am Rock ihrer Mutter fest. Professor Scholz war - gelinde gesagt - fassungslos. Ihm, dem durchgeistigten Gelehrten, fehlte jedoch die Courage, den betrunkenen Mann rauszuschmeißen. Er wollte etwas sagen, doch der Nikolaus namens Gottfried kam ihm zuvor und trug mit schwerer Zunge sein Gedicht vor: "Draußen vom Walde komm' ich her" - dabei kam er garantiert gerade aus einer Kneipe -, "ich kann euch sagen, es weihnachtet sehr - rülps! -, überall auf den Tannenspitzen - rülps! - sah ich muntere Vöglein blitzen -, äh, Lichtlein sitzen -, äh, blitzen ... - rülps! Ach, ist doch scheißegal, was da geblitzt hat. Hauptsache, ich bin jetzt da! Stimmts, Kinder?! " Klausi und Mausi mussten jetzt doch lachen und stimmten ihm zu. Gottfried schien jedoch schon mit seinem Latein am Ende zu sein und wankte nur noch rülpsend durchs Wohnzimmer. "Hören Sie auf, machen Sie, dass Sie rauskommen! ", schimpfte Frau Scholz und wollte den Nikolaus etwas unsanft in Richtung Tür befördern. Doch der ließ sich gar nicht beirren. "Ist das der Dank dafür, dass ich zu euch gekommen bin - rülps? ", ließ er verlauten und stierte begierig auf die Hausbar, die sich in einer Ecke befand. "Habt ihr mal einen Cognac für mich? " - Er schwankte, ohne die Antwort abzuwarten, zu der kleinen Bar und musterte das Sortiment. Professor Scholz wollte nicht glauben, was sich da vor seinen Augen abspielte - in seinem bisherigen Leben hatte er so etwas Unverschämtes noch nicht erlebt. Gottfried schaute sich die Spirituosenflaschen an, nahm aus der "Asbach"-Flasche einen kräftigen Schluck und meinte daraufhin ganz lapidar: "Jetzt ist mir wohler - rülps! " Inzwischen hatte Frau Scholz die Polizei angerufen, und die Beamten versprachen ihr, schnellstmöglich zu kommen. Doch sie kamen nicht schnell genug, und so konnte Gottfried sein Unwesen unbekümmert fortsetzen. Immerhin wurde er nach dem Schluck aus der "Asbach"-Flasche etwas ruhiger, aber er stank, als hätte er sich lange nicht mehr gewaschen und seine Alkoholausdünstung war geradezu widerlich. "Na, wo sind denn die Kleinen? ", brabbelte er, dabei hatte er seine vom Suff geröteten Augen kaum noch unter Kontrolle. "Da seid ihr ja! Ward ihr denn immer schön brav?! " Aber Klausi und Mausi lachten ihn aus und riefen: "Was bist du denn für ein komischer Nikolaus? " Gottfried stutzte, fing sich aber wieder. "Ich habe gehört, dass ihr nicht immer artig ward, und dass ihr im Kindergarten die Tanten geärgert habt! Stimmt das? " "Was geht denn dich das an? ", verweigerte Klausi eine Antwort. "Das geht mich schon etwas an, du Frechdachs! " Und mit erhobenem Zeigefinger fügte er belehrend hinzu: "Schließlich bin ich der Nikolaus, und ich bin extra aus dem Wald zu euch gekommen! " "Du kommst doch gar nicht aus dem Wald", lachte der fünfjährige Klausi ihn aus, "du bist ja auch gar kein richtiger Nikolaus! " Gottfried schien entrüstet, begnügte sich aber mit einer verächtlichen Handbewegung und fragte lauernd: "Könnt ihr denn jedenfalls ein Gedicht aufsagen - rülps! " "Unmöglich! " rief Frau Scholz, "Verschwinden Sie endlich! " Doch anscheinend fanden Mausi und Klausi das Schauspiel inzwischen ganz lustig. Sie protestierten - schließlich wollten sie ja ihre Geschenke haben - und sagten brav ihr Verslein auf: "Lieber guter Nikolaus, schau uns nicht so böse an, packe deine Rute ein, wir woll`n auch immer artig sein! " "Das habt ihr aber fein auswendig gelernt, ihr Schwachköpfe! ", lallte Gottfried. "Aber jetzt gibt's erst mal die verdiente Strafe! " Nun reichte es Frau Scholz endgültig. Sie packte Gottfried am rechten Ärmel und versuchte, ihn mit aller Kraft zur Haustür zu ziehen. Doch es gelang ihr nicht. Im Gegenteil! Gottfried schwoll die Zornesader, er wollte der kleinen Mausi im Vorbeigehen mit der Rute einen Schlag verpassen. Doch Mausi konnte sich rasch in Sicherheit bringen und versteckte sich unter dem Wohnzimmertisch. Dafür bekam Frau Scholz den Schlag ab, da sie sich justament in der Schlagrichtung befand. "Autsch, Sie Lümmel! ", schrie sie und versteckte sich hinter ihrem Mann. Jedoch war sie da am falschen Platz. Professor Scholz war zwar tief betroffen, rief aber nur halbherzig aus: "Ich bin empört! Verlassen Sie sofort mein Haus, Sie Flegel! " Doch er hatte nicht mit Gottfrieds massiver Willenskraft gerechnet. Der wollte das Haus so schnell noch nicht verlassen und nahm erst mal einen kräftigen Schluck aus der Pulle. "Du hast hier gar nichts zu melden! ", motzte er den Hausherrn an. "Du Weichei! " "Wie kommen Sie dazu, mich zu duzen, Sie Flegel! ", regte sich der Professor auf. "Du meinst wohl, du bist etwas Besseres - rülps -, nur weil du ein `Brofesser´ bist - rülps! ", schleuderte Gottfried, der Nikolaus, ihm aufgebracht entgegen. Der Professor war aufs Äußerste pikiert, er musste erst mal tief durchschlucken. Das hatte noch niemand gewagt, ihn derartig zu demütigen. Aber dann hatte er gar keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen. Denn Gottfried ging nun mit Brachialgewalt auf den Hausherrn los, um ihn und seine Frau, die noch immer hinter ihrem Mann Schutz suchte, mit der Rute zu schlagen. Er holte kräftig aus und traf Frau Scholz abermals mit einem festen Schlag, diesmal auf den Rücken, da ihr Mann - statt sich schützend vor sie zu stellen - einen Ausweichschritt nach hinten gemacht hatte. Somit war die ohnehin schon gepeinigte Frau wiederum die Leidtragende. Klausi und Mausi saßen jetzt beide unter dem Tisch. Heimlich kicherten sie über den rabiaten Nikolaus, gleichzeitig feuerten sie ihren feigen Vater an, sich zu wehren. Aus dem Radio erklang derweil allerliebst: "Süßer die Glocken nie klingen ... " Doch statt der "süßen Glocken" erklang bei der Familie Scholz in der guten Stube Weh- und Wutgeschrei. "Wenn doch nur endlich die Polizei käme? ", dachte Frau Scholz verzweifelt. Aber die konnte ja nicht wissen, dass der falsche "Freudenbringer" mittlerweile zu einen echten Unglücksbringer geworden war. Der grölte die friedlichen Klänge aus dem Radio zwar mit, machte jedoch eine finstere Miene und fuchtelte mit der Rute herum, als wäre er tobsüchtig geworden. Plötzlich wurde Klausi von einem unbändigen Mut gepackt. Jetzt wollte er der Mutter helfen, da der Vater ja offensichtlich nicht in der Lage dazu war; nun wollte jedenfalls er sich mannhaft zeigen. Er schlich sich von hinten an den bösartigen Nikolaus ran, klammerte sich an seinem rechten Bein fest und biss ihm so fest in die Wade, dass der vor Schmerz aufschrie und wie ein wild gewordener Berserker um sich schlug. "Euch zeig' ich`s, ihr undankbaren Geschöpfe! Ich bin `Gottfried, der Nikolaus´, und ich lass mich doch von euch nicht vorführen! " Er wollte auf Klausi eindreschen, doch der verschwand schnell wieder unter dem Tisch und lachte ihn lauthals aus, was Gottfried noch mehr reizte. Frau Scholz hatte sich inzwischen von hinten an ihn rangeschlichen und bekam ihn nun mit beiden Händen um den Bauch zu fassen - so, wie sie es mal im Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Doch das hätte sie nicht tun sollen, denn jetzt hustete und spuckte der Nikolaus und verteilte seinen stark alkoholisierten, ekelhaft riechenden Mageninhalt im ganzen Wohnzimmer. Doch Frau Scholz lockerte ihren Klammergriff nicht - sie entwickelte Bärenkräfte und mutierte geradezu zu einem wütenden Terrier. Aber dann konnte Gottfried sich doch losreißen, und jetzt schlug er gnadenlos um sich. Die beiden Kinder unter dem Tisch wussten nicht, ob sie über den unmöglichen Nikolaus lachen sollten, oder ob sie ihre misshandelten Eltern bemitleiden sollten. Doch Mausi fand das Nikolaus-Spektakel richtig aufregend und flüsterte Klausi zu, dass es noch nie so spannend war, und sie meinte auch, dass sich die Eltern diesmal besonders viel Mühe gegeben hätten.

Professor Scholz stand währenddessen wie versteinert da; mit solch einem Rüpel konnte er einfach nicht umgehen. Aber er spürte, dass seine Frau und seine Kinder von ihm erwarteten, dass er nun endlich energisch gegen den Unhold einschreiten würde. Doch stattdessen kam Gottfried mit erhobener Rute auf ihn zu, und er musste ein paar kräftige Schläge einstecken. "Aua, Aua! Hören Sie doch auf, Sie Flegel, Sie tun mir doch weh! ", flehte der Professor und hielt seine Arme schützend vor sein Gesicht. Frau Scholz wusste sich nicht mehr zu helfen; sie fing an zu weinen und schielte immer wieder zur Tür, ob nicht endlich die Polizei kommen würde. Allmählich empfanden Klausi und Mausi die Situation aber doch als echt bedrohlich; sie spürten instinktiv, dass es kein Spaß war, sondern bitterer Ernst. Und Klausi gab seinem Schwesterchen zu verstehen, dass sie sich gemeinsam auf den bösen Mann stürzen müssten, um ihn zu überwältigen. Es gelang Klausi dann auch, dem überlauerten Gottfried die Rute aus der Hand zu reißen, und nun schlug er auf den reichlich verdatterten Nikolaus ein, der mit einer solchen Attacke seitens der Kinder wohl nicht gerechnet hatte. Der schüttelte sich aber nur - durch den dicken Mantel spürte er ja nichts -, nahm noch einen kräftigen Schluck aus der "Asbach"-Flasche, und da er seine Mission ja weitgehendst erfüllt hatte, rülpste er noch einmal und ließ einen fahren, bevor er sich zum Rückzug entschloss. "Das ist ja wohl das Letzte, dass ich mich von euch Idioten verprügeln lasse! ", schimpfte er, als er hinaustorkelte. "Das ist ja pervers! Ich werde mich bei der ASG `Freudenbringer´ über euch beschweren! " Mit diesen Worten verließ "Gottfried, der Nikolaus", das Haus der ehrenwerten Familie Scholz. Der Professor und seine Frau fassten es nicht, aber sie waren froh, dass der Übeltäter endlich verschwunden war. Der wankte nunmehr volltrunken durch die feine Wohngegend und grölte die Hymne der Arbeitslosen-Selbshilfe-Gruppe "Brüder zur Freiheit zur Sonne .... ", bevor er in die nächstbeste Kneipe stolperte.

Kaum hatte "Gottfried, der Nikolaus", das Haus verlassen, kamen zwei Polizisten und wünschten der Familie Scholz einen schönen Abend, bevor sie in netter Form fragten, was denn eigentlich passiert sei!